Die ganze Nacht hindurch hielt der König Aietes die Häupter seines Volkes um sich im Palaste versammelt und ratschlagte,
wie die Argonauten zu überlisten wären, denn er war es wohl innegeworden, daß alles, was sich den Tag zuvor ereignet
hatte, nicht ohne Mitwirkung seiner Töchter geschehen war. Hera, die Göttin, sah die Gefahr, in welcher Iason schwebte;
deswegen erfüllte sie das Herz Medeas mit zagender Furcht, daß sie zitterte wie ein Reh im tiefen Walde, das der
Jagdhunde Gebell aufgeschreckt hat. Sogleich ahnte sie, daß ihre Hilfe dem Vater nicht verborgen sei; sie fürchtete auch
die Mitwissenschaft der Mägde; darum brannten ihre Augen von Tränen, und die Ohren sausten ihr. Ihr Haar ließ sie wie in
Trauer hängen, und wäre das Schicksal nicht zuwider gewesen, so hätte die Jungfrau durch Gift ihrem Jammer zur Stunde
ein Ende gemacht. Schon hatte sie die gefüllte Schale in der Hand, als Hera ihr den Mut aufs neue beflügelte und sie mit
verwandelten Gedanken das Gift wieder in seinen Behälter goß. Jetzt raffte sie sich zusammen; sie war entschlossen zu
fliehen, bedeckte ihr Lager und die Türpfosten mit Abschiedsküssen, berührte mit den Händen noch einmal die Wände
ihres Zimmers, schnitt sich eine Haarlocke ab und legte sie zum Andenken für ihre Mutter aufs Bett. »Lebe wohl, geliebte
Mutter«, sprach sie weinend »lebe wohl, Schwester Chalkiope und das ganze Haus! O Fremdling! hätte dich das Meer
verschlungen, ehe du nach Kolchis gekommen wärest!« Und so verließ sie ihre süße Heimat, wie eine Gefangene fliehend
den bittern Kerker der Sklaverei verläßt. Die Pforten des Palastes taten sich vor ihren Zaubersprüchen auf; durch enge
Seitenwege rannte sie mit bloßen Füßen, mit der Linken den Schleier bis über die Wangen herunterziehend, mit der
Rechten den Saum ihres Gewandes vor der Befleckung des Weges schützend. Bald war sie, unerkannt von den Wächtern,
draußen vor der Stadt und schlug einen Fußpfad nach dem Tempel ein; denn als Zauberweib und als Giftmischerin war sie
vom Wurzelsuchen her aller Wege des Feldes wohl kundig. Selene, die Mondgöttin, welche sie so wandeln sah, sprach zu
sich selbst, lächelnd herniederscheinend: ›So quält doch auch andre die Liebe, wie mich die zum schönen Endymion! Oft
hast du mich mit deinen Hexensprüchen vom Himmel hinweggezaubert; jetzt leidest du selbst um einen Iason bittere
Qualen. Nun, so geh nur, aber so schlau du bist, hoffe nicht, dem herbsten Schmerz zu entfliehen!‹ So sprach Selene mit
sich selber, jene aber trugen ihre Füße eilig davon; endlich bogen ihre Schritte gegen das Meeresufer ein, wo das
Freudenfeuer, das die Helden dem Siege Iasons zu Ehren die ganze Nacht hindurch auflodern ließen, ihr zum Leitsterne
diente. Dem Schiffe gegenüber angekommen, rief sie laut ihren jüngsten Schwestersohn, Phrontis; dieser, der mit Iason ihre
Stimme erkannte, erwiderte dreimal den dreifachen Ruf. Die Helden, die dies alle hörten, staunten anfangs, dann ruderten
sie ihr entgegen. Ehe das Schiff ans jenseitige Ufer gebunden war, sprang Iason vom Verdeck ans Land, Phrontis und
Argos ihm nach. »Rettet mich«, rief das Mädchen, indem sie ihre Knie umfaßte, »entreißt mich und euch meinem Vater!
Alles ist verraten und keine Hilfe mehr; laßt uns zu Schiffe fliehen, eh er die schnellen Rosse besteigt; das Goldne Vlies will
ich euch verschaffen, indem ich den Drachen einschläfere. Du aber, o Fremdling, schwöre mir zu den Göttern vor deinen
Genossen, daß du mich Verwaiste in der Fremde nicht beschimpfen willst!« So sprach sie traurig und erfreute Iasons Herz.
Er hub die ins Knie Gesunkene sanft vom Boden auf, umfaßte sie und sprach: »Geliebte, Zeus und Hera, die Beschirmerin
der Ehe, seien meine Zeugen, daß ich, nach Griechenland zurückgekehrt, dich als rechtmäßige Gattin in mein Haus
einführen will!« So schwor er und legte seine Hand in die ihrige. Dann hieß Medea die Helden noch in derselben Nacht
nach dem heiligen Haine rudern, um dort das Goldne Vlies zu entführen. Eifrig trieben die Griechen das Schiff vorwärts,
das Iason und die Jungfrau bald und noch vor dämmerndem Tag verließen, um über den Pfad einer Wiese dem Haine
zuzugehen. Dort suchten sie den hohen Eichbaum, an welchem das Goldne Vlies hing, strahlend durch die Nacht, einer
Morgenwolke ähnlich, die von der aufgehenden Sonne beschienen wird. Gegenüber aber reckte der schlaflose Drache, aus
scharfen Augen in die Ferne blickend, seinen langen Hals den Herannahenden entgegen und zischte fürchterlich, daß die
Ufer des Flusses und der ganze große Hain widerhallte. Wie über einen angezündeten Wald die Flammen sich hinwälzen,
so rollte das Untier mit leuchtenden Schuppen in unzähligen Krümmungen daher. Die Jungfrau aber ging ihm keck
entgegen, sie rief mit süßer Stimme den Schlaf, den mächtigsten der Götter, an, das Ungeheuer einzulullen; sie rief zur
mächtigen Königin der Unterwelt, ihr Vorhaben zu segnen. Nicht ohne Furcht folgte ihr Iason. Aber schon durch den
Zaubergesang der Jungfrau eingeschläfert, senkte der Drache die Wölbung des Rückens, und sein geringelter Leib dehnte
sich der Länge nach aus; nur mit dem gräßlichen Kopfe stand er noch aufrecht und drohte die beiden mit seinem
aufgesperrten Rachen zu fassen. Da sprengte Medea ihm mit einem Wacholderstengel unter Beschwörungsformeln einen
Zaubertrank in die Augen, dessen Duft ihn mit Schlummer übergoß; jetzt schloß sich sein Rachen, und schlafend dehnte
sich der Drache mit seinem ganzen Leibe durch den langen Wald hin.
Auf ihre Ermahnung zog nun Iason das Vlies von der Eiche, während das Mädchen fortwährend den Kopf des Drachen
mit dem Zauberöl besprengte. Dann verließen beide eilig den beschatteten Areshain, und Iason hielt von ferne schon
freudig das große Widdervlies entgegen, von dessen Widerschein seine Stirn und sein blondes Haar in goldenem Schimmer
glänzten; auch beleuchtete sein Schein ihm weithin den nächtlichen Pfad. So ging er, es auf der linken Schulter tragend; die
goldne Last hing ihm vom Hals bis auf die Füße herunter; dann rollte er es wieder auf, denn immer fürchtete er, ein Mensch
oder Gott möchte ihm begegnen und ihn des Schatzes berauben. Mit der Morgenröte traten sie ins Schiff, die Genossen
umringten den Führer und staunten das Vlies an, das funkelte wie des Zeus Blitz; jeder wollte es mit den Händen betasten;
aber Iason litt es nicht, sondern warf einen neugefertigten Mantel darüber. Die Jungfrau setzte er auf das Hinterverdeck des
Schiffes und sprach dann so zu seinen Freunden: »Jetzt, ihr Lieben, laßt uns eilig ins Vaterland zurückkehren. Durch dieser
Jungfrau Rat ist vollbracht, weswegen wir unsere Fahrt unternommen haben; zum Lohne führe ich sie als meine rechtmäßige
Gemahlin nach Hause; ihr aber helft mir sie als die Helferin ganz Griechenlands beschirmen. Denn ich zweifle nicht: bald
wird Aietes dasein und mit allem seinem Volke unsere Ausfahrt aus dem Flusse hindern wollen! Deswegen soll von euch
abwechslungsweise die eine Hälfte rudern, die andere, unsere mächtigen Schilde aus Rindshaut den Feinden
entgegenhaltend, die Rückfahrt schirmen. Denn in unserer Hand steht jetzt die Heimkehr zu den Unsrigen und die Ehre
oder Schande Griechenlands!« Mit diesen Worten hieb er die Taue ab, mit denen das Schiff angebunden war, warf sich in
volle Rüstung und stellte sich so neben das Mägdlein, dem Steuermann Ankaios zur Seite. Das Schiff eilte unter den
Rudern der Mündung des Flusses entgegen.