Nach einer stürmevollen Fahrt landeten die Helden in einem Meerbusen Bithyniens bei der Stadt Kios. Die Mysier, die hier
wohnten, empfingen sie gar freundlich, türmten dürres Holz zum wärmenden Feuer auf, machten den Ankömmlingen aus
grünem Laub eine weiche Streu und setzten ihnen noch in der Abenddämmerung Wein und Speise zur Genüge vor.
Herakles, der alle Bequemlichkeiten der Reise verschmähte, ließ seine Genossen beim Mahle sitzen und machte einen
Streifzug in den Wald, um sich aus einem Tannenbaum ein besseres Ruder für den kommenden Morgen zu schnitzen. Bald
fand er eine Tanne, die ihm gerecht war, nicht zu sehr mit Ästen beladen, in der Größe und im Umfang wie der Ast einer
schlanken Pappel. Sogleich legte er Köcher und Bogen auf die Erde, warf sein Löwenfell ab, seine eherne Keule daneben
und zog den Stamm, den er mit beiden Händen gefaßt, mitsamt den Wurzeln und der daranhängenden Erde heraus, so daß
die Tanne dalag, nicht anders denn, als hätte sie ein Sturm entwurzelt. Inzwischen hatte sich sein junger Gefährte Hylas
auch vom Tische der Genossen verloren. Er war mit dem ehernen Kruge aufgestanden, um Wasser für seinen Herrn und
Freund zum Mahle zu schöpfen und auch alles andere ihm für seine Rückkehr vorzubereiten. Herakles hatte auf seinem
Zuge gegen die Dryopen seinen Vater im Wortwechsel erschlagen, den Knaben aber aus dem Hause des Vaters mit sich
genommen und sich zum Diener und Freunde erzogen. Als dieser schöne Jüngling an dem Quelle Wasser schöpfte,
leuchtete der Vollmond. Wie er sich nun eben mit dem Kruge nach dem Wasserspiegel neigte, erblickte ihn die Nymphe
des Quelles. Von seiner Schönheit betört, schlang sie den linken Arm um ihn, mit der Rechten ergriff sie seinen Ellenbogen
und zog ihn so hinunter in die Tiefe. Einer der Helden, Polyphemos mit Namen, der die Rückkehr des Herakles nicht ferne
von jenem Quell erwartete, hörte den Hilfeschrei des Knaben. Aber er fand ihn nicht mehr, dagegen begegnete er dem
Herakles, der aus dem Walde zurückkam. »Unglücklicher«, rief er ihm entgegen, »muß ich der erste sein, der dir die
Trauerbotschaft melde? Dein Hylas ist zum Quelle gegangen und nicht wieder zurückgekehrt; Räuber fahren ihn gefangen
davon oder wilde Tiere zerreißen ihn; ich selbst habe seinen Angstruf gehört.« Dem Herakles floß der Schweiß vom
Haupte, als er es hörte, und das Blut wallte ihm gegen die Brust. Zornig warf er die Tanne auf den Boden und rannte, wie
ein von der Bremse gestochener Stier Hirten und Herde verläßt, mit durchdringendem Rufe durch das Dickicht der Quelle
zu.
Jetzt stand der Morgenstern über dem Bergesgipfel; günstiger Wind erhub sich. Der Steuermann ermahnte die Helden, ihn
zu benützen und das Schiff zu besteigen. Schon fuhren sie im Morgenlichte fröhlich dahin, als ihnen zu spät einfiel, daß zwei
ihrer Genossen, Polyphemos und Herakles, von ihnen am Ufer zurückgelassen worden. Ein stürmischer Streit erhob sich
unter den Helden, ob sie ohne die tapfersten Begleiter weitersegeln sollten. Iason sprach kein Wort, stille saß er, und der
Kummer fraß ihm am Herzen; den Telamon aber übermannte der Zorn: »Wie kannst du so ruhig sitzen?« rief er dem
Führer zu; »gewiß fürchtetest du, Herakles möchte deinen Ruhm verdunkeln! Doch was helfen da Worte? Und wenn alle
Genossen mit dir einverstanden wären, so will ich allein zu dem verlassenen Helden umkehren.« Mit diesen Worten faßte er
den Steuermann Tiphys an der Brust, seine Augen funkelten wie Feuerflammen, und gewiß hätte er sie gezwungen, nach
dem Gestade der Mysier zurückzukehren, wenn nicht die beiden Söhne des Boreas, Kalais und Zetes, ihm in den Arm
gefallen wären und mit scheltenden Worten zurückgehalten hätten. Zugleich stieg aus der schäumenden Flut Glaukos, der
Meergott, hervor, faßte mit starker Hand das Ende des Schiffes und rief den Eilenden zu: »Ihr Helden, was streitet ihr
euch? Was begehret ihr, wider den Willen des Zeus den mutigen Herakles mit euch in das Land des Aietes zu führen? Ihm
sind ganz andere Arbeiten zu verrichten vom Schicksale bestimmt. Den Hylas hat eine liebende Nymphe geraubt, und aus
Sehnsucht nach ihm ist er zurückgeblieben.« Nachdem er ihnen solches geoffenbart, tauchte Glaukos wieder in die Tiefe
nieder, und das dunkle Wasser schäumte in Wirbeln um ihn. Telamon war beschämt, er ging auf Iason zu, legte seine Hand
in des Helden Hand und sprach: »Zürne mir nicht, Iason! Der Schmerz hat mich verführt, unvernünftige Worte zu reden!
Übergib meinen Fehler den Winden, und laß uns Wohlwollen üben wie früher!« Iason gab der Versöhnung gerne Gehör,
und so fuhren sie bei starkem und günstigem Winde dahin. Polyphemos fand sich bei den Mysiern zurecht und baute ihnen
eine Stadt. Herakles aber ging weiter, wohin ihn die Bestimmung des Zeus rief.